Nach 27 Jahren: Habemus Caesarem
von Ralf Breitgoff
Für ganze Germanen-Generationen ist am 25. Februar 2017 eine fast 30-jährige Ära zu Ende gegangen. Zwei Jahre nach der letzten Kohlfahrt, trafen sich neun Kohlkönige zur allerletzten Kohlfahrt, um den Kaiser unter ihnen zu finden und zu küren.
Oft lassen sich Ereignisse in wenigen Sätzen zusammenfassen. Sätze, die sofort ganze Kaskaden von Erinnerungen und Assoziationen freisetzen. Für die Kohlfahrt gilt das auch. Und in den vergangenen 27 Jahren ist sicherlich eine Vielzahl von Sätzen zusammengekommen. Jeder, der an einer Kohlfahrt einmal teilgenommen hat, wird mindestens einen solchen Satz kennen, und auch einige, die nie dabei waren, kennen Sätze, die zur Kohlfahrt gehören. Für jeden ist es vielleicht ein anderer Satz. Für mich sind es vor allem zwei oder besser gesagt zweieinhalb Sätze.
Der erste Satz lautet: "Sag mal, Roland, was machen die da eigentlich?" Er stammt von Bernd Bergmann, vor wenigen Tagen 53 Lenze jung geworden, damals zarte 25 Jahre alt. Bernd war gerade von der altehrwürdigen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn an die recht junge Carl-von-Ossietzky-Uni in Oldenburg gewechselt und hatte übergangsweise in der Zahnarztpraxis seines Bundesbruders, eines gewissen Dr. med. dent. Roland Ernst, Obdach gefunden. Bernd hatte Roland, wie er selbst immer gerne erzählt, insbesondere aus Hann. Münden in Erinnerung, hatte dieser doch nach einem Sieg beim Fußballturnier auf dem MK-Pfingsttreffen den Pokal einfach mal so mit einer Flasche Sekt gefüllt. Als es Bernd dann in die norddeutsche Tiefebene verschlug, hat er ihn dann einfach mal angerufen und nach einer Bleibe gefragt.
"Sag mal, Roland, was machen die da eigentlich?" Bernd hatte Menschen mit Bollerwagen und Schnaps durch die Landschaft ziehen sehen, nicht an Christi Himmelfahrt, sondern im ach so kalten Winter. Unterbrochen wurde das Treiben von dem einen oder anderen Schnaps und neckischen Spielchen, wie Teebeutel-Weitwurf. Mehr noch: Andere schoben, rollten und warfen im Wettkampfmodus Kugeln durch die unendlichen Weiten des Ammerlandes. "Sag mal, Roland, was machen die da eigentlich?" "Die machen eine Kohlfahrt!" "Was machen die?" "Eine Kohlfahrt und die anderen boßeln!" "Die bo... was?" "Die boßeln!"
Zur Erklärung: Boßeln ist ein (ost-)friesischer Nationalsport, ein ernsthaft betriebener Wettkampfsport mit Ligabetrieb und ungeteilter Aufmerksamkeit im regionalen Sportteil. Ziel des Spiels ist es – verkürzt gesagt –, eine Kugel weiter zu rollen als die gegnerische Mannschaft. Die Spieler einer jeden Mannschaft sind durchnummeriert, und wenn eine höhere Nummer, etwa Spieler Nummer fünf, die Kugel des Spielers mit der Nummer vier nicht erreicht, erhält die Mannschaft des Spielers mit der Nummer vier einen Punkt, einen sogenannten Schöt. Jeder Schöt wird in der Regel mit einem Korn begossen.
Bei einer Kohlfahrt handelt es sich ebenfalls um eine norddeutsche Tradition, quasi überall da, wo es im Winter so kalt wird, dass sich der Anbau kargen Gemüses wie Grünkohl lohnt. Die Kohlfahrt an sich besteht aus besagtem Spaziergang mit Bollerwagen und neckischen Spielen mit anschließender Einkehr zum Kohlessen. Manche schenken sich den Spaziergang und gehen direkt essen.
Zum Kohlessen reicht der Küchenchef für gewöhnlich Kartoffel und Pinkel, gerne auch mal Mettwurst. Pinkel ist eine Grützwurst. „Als Grützwurst bezeichnet man verschiedene Wurstsorten von Kochwurst mit Nährmitteln, die neben Fleisch auch Grütze enthalten. Varianten davon werden mit Graupen hergestellt und entsprechend als Graupenwurst bezeichnet“, sagt Wikipedia. Um welche Nährmittel es sich konkret handelt, dazu äußert sich die Internet-Enzyklopädie nicht. Das Ganze ist auf jeden Fall recht fettig. Die Erlangung der Kohlkönigswürde ist neben der erfolgreichen Erledigung der Aufgaben auf der Kohlfahrt, insbesondere an die Gewichtszunahme während des Kohlessens gebunden. Man könnte also auch vom friesischen Biathlon sprechen.
"Sag mal, Roland, das wäre doch vielleicht auch etwas für die Germanen", fand Bernd. Und schon war die Idee der ersten Kohlfahrt geboren, erweitert um das Boßeln. Die Premiere fiel in mein erstes Semester, das Wintersemester 1989/90. Die Mauer war gerade gefallen und ein MK-Fuxentreffen in der ehemals geteilten Stadt Berlin bei der Alemanno-Borussia lag noch vor uns. Roland war jünger, als ich es heute bin. Im Grundsatz hat sich daran auch nichts geändert.
"Kiste Bier?", lautet der zweite Satz, den ich auf immer mit der Kohlfahrt verbinde. Er stammt ebenfalls von Bernd. Eine Frage, die eigentlich kein Fragezeichen verdient hatte. So sehr schwang der Brustton der Überzeugung mit. Rolands Antwort war nicht minder eindeutig: "Kiste Bier!", jetzt ganz zweifelsfrei ohne Fragezeichen. Was war passiert? Kurz vor Ende der ersten Boßeltour auf der ersten Kohlfahrt stand es unentschieden. Roland hatte gerade mit einem Wurf über gefühlt 250 Meter vorgelegt. Bernd musste die Kugel erreichen, um den Sieg für sein Team klarzumachen. "Kiste Bier?", war also Frage, Wetteinsatz und Ansage zu gleich. Tja, und Roland musste zahlen. "Kiste Bier?" ist in der älteren Kohlkönigsgeneration vielleicht nicht seitdem, aber mit Sicherheit seitdem erst recht zum geflügelten Wort geworden.
Als "Cabbage Kings" erreichten die Kohlkönige der ersten Generation auch internationale Beachtung. Es war im Jahre des Herrn 1995. Mittlerweile regierte Harry I. Gude das germanische Kohlvolk. Zusammen mit seinen Vorgängern Martin I. Biesel, Bernd I. Bergmann und Ralf I. Breitgoff war er in den jährlichen Germanen-Skiurlaub – auch so eine Tradition – nach Verbier gefahren, in Begleitung des Zeremonienmeisters Roland Ernst und dem bürgerlichen Klaus Bergmann.
Die Gruppe entschied sich als Team an einem Gäste-Skirennen teilzunehmen, organisiert vom ortsansässigen Irish Pub. Die "Cabbage Kings" schlugen sich wacker, insbesondere Harry I., der in seiner Startgruppe – weniger als zwei Wochen Skierfahrung – mit einer Zeit von knapp fünfeinhalb Minuten Platz drei belegte. Zum Vergleich: Der Gesamtsieger des Wettbewerbs war gerade einmal eine gute halbe Minute unterwegs, und die anderen Cabbage Kings waren kaum langsamer als 45 Sekunden.
Nun trug es sich aber zu, dass die ersten drei einer jeden Startgruppe während der abendlichen Siegerehrung im Pub im Film gezeigt wurden. Harrys Ausruf "Jetzt zeigen sie das auch noch in Zeitlupe!" ist seitdem der halbe Satz, den ich mit der Kohlfahrt verbinde. Schließlich wären wir ohne Kohlfahrt nie als Cabbage Kings gestartet.
Es wurde viel diskutiert, an jenem Tisch im Hause Ernst, der Platz für 14 Personen bot – für nicht mehr und aber eben auch nicht weniger als 14 Personen. Über Frauen und Fechten, über die Nachteile des CC, die Vorteile des MK und umgekehrt. Über Politik, Sport, Klima- und Strukturwandel. Es wurde viel gelacht, nie geweint, heftig debattiert, kaum gestritten.
Die Kohlfahrten waren prägend für Germania, nicht nur für die, die dabei waren. Von ehemals 25 Kohlkönigen sind immer noch 19 Germanen. Einer ist jetzt Kohlkaiser: Benjamin, der Einzige, Flötotto. Sie alle teilen ähnliche Erinnerungen: den Löffeltrunk, Kohl, Pinkel, Kartoffeln, Vanille-Eis mit heißen Kirschen und gaaaanz viel Sahne. Anfangs gehörte nach dem Boßeln die Sportschau um 18:00 Uhr über Jahre zum abendlichen Ritual. Später war es die Sauna, gerne auch mal mit einem oder zwei oder drei ... Gläsern Sekt.
Der älteste Kohlkönig, und erste seiner Art, ist mittlerweile 54 Jahre alt, der jüngste gerade einmal 24. Es verbindet sie mehr als nur die Glieder einer immer länger werdenden Kohlkönigskette. Und viele, für die es nur zum Schweineorden erster Klasse gereicht hat, sind auch noch dabei. Die Kohlfahrt war immer schon ein Treffen der Generationen. Auf meinen Kohlfahrten habe ich Franz-Ferdinand Stolte und Rudi Lepler kennengelernt. Stolte II wird für mich und für immer wohl der einzige Bundesbruder bleiben, der auf einer Kohlfahrt zwar nichts gegessen hat, aber trotzdem am meisten Gewicht zugelegt hat.
Und natürlich: Der längst verstorbene, aber unvergessene Harald Rudloff, damals schon weit über 70 Jahre alt, pensionierter Richter aus Oldenburg. Beim Boßeln war er nie dabei, aber des Abends kam er gerne dazu, um den Kreis der jungen und älteren Bundesbrüder in das Geheimnis des Löffeltrunks einzuführen. Sollte mich mal jemand fragen: "Was ist das eigentlich, dieser Lebensbund, diese Bundesbrüderlichkeit?" Dann werde ich ihm antworten: "Bundesbrüderlichkeit und Lebensbund sind wie eine Kohlfahrt bei Roland und Angelika Ernst."